Vortragsrückschau
Montag, 27. Januar 2020, 19.30 Uhr, Hörsaal H11, Gebäude NW I, Universität Bayreuth
Das Insekten- und Vogelsterben vor dem Hintergrund der Natur- und
Kulturlandschaftsgeschichte – und wie wir es überwinden können
Dr. Herbert Nickel (Göttingen)
Machen wir heute einen Spaziergang über unsere Felder und Wiesen, hören wir kaum noch Gesänge von Vögeln und Insekten. Der Stumme Frühling, den
Rachel Carson 1962 vorausgesehen hat, ist inzwischen ein-getroffen, verursacht durch landwirtschaftliche Intensivierung, durch
Pestizide und Homogenisierung unserer Landschaft, die vielerorts ihre Schönheit und Identität verloren hat. Hinzu kommen weitere Probleme:
die über-nutzten Böden setzen enorme Mengen CO2 frei und erodieren, die eingedeichten und beackerten Flussauen verlieren ihre Funktion zur
Hochwasserretention, die Nährstoffe aus den importierten Futtermitteln und dem Mineraldünger überdüngen die Landschaft und die einstigen
Weidetiere werden heute in Intensivställen gehal-ten. Selbst ertragsschwache und überflutungsgefährdete Standorte werden mit hohem Aufwand und
unter Subventionierung bewirtschaftet, was nur die Umwelt belastet. Hinzu kommt ein dramatisches Höfesterben in der Landwirtschaft.
Im Urlaub fahren wir darum in die Alpen oder nach Süd- und Osteuropa und wandern dort an Kühen und Schaf- und Ziegenherden vorbei und freuen uns
über die Blumenvielfalt, die Schmetterlinge und Vögel. Hier scheint die Welt noch in Ordnung. Wieso fällt uns dann nicht der Zusammenhang zwischen
Weidetieren und der Biodiversität von Insekten, Vögeln und Pflanzen als kausale Verbindung ins Auge, die tatsächlich fast alle wichtigen
Organismengruppen funktionell umfasst? Der Bogen, der hier zu spannen ist, reicht tatsächlich über Jahrmillionen zurück in eine Zeit, in der
große Weidetiere die wichtigsten Gestalter unserer Landschaft waren und als selektive Pflanzenfresser, Vektoren für Pflanzensamen und nicht
zuletzt Dungproduzenten ein Schlüs-selfaktor für die Biodiversität in allen Landökosystemen waren.
Können in der heutigen Krise nicht Lösungsansätze gefunden werden, die den Landwirt wieder mit der Biodiversität zusammenbringen, indem wir die
Schlüsselfunktionen der Weidetiere für Landschaft und Biodiversi-tät wieder aktivieren? Und können wir uns die Urlaubsidylle der blüten- und
schmetterlingsreichen Vogelpara-diese nicht wieder vor die Haustüre holen?
Der Natur- und Umweltschutz des 21. Jahrhunderts sollte diese integrierenden Gedanken aufnehmen und sich für die Rückkehr der
Weidetiere in die Landschaft stark machen. Auch bei den laufenden Neuverhandlungen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) sollte
dies stärker berücksichtigt werden. So könnte nicht nur der Bio-diversitätsschwund gebremst werden, sondern es könnten auch substanzielle
Beiträge zum Schutz von Klima, Umwelt und landwirtschaftlichen Betrieben geleistet werden.
Der Göttinger Ökologe und Entomologe Dr. Herbert Nickel arbeitet, forscht und publiziert in den Bereichen Naturschutz, Weideökologie,
Landschaftsgeschichte, Insekten- und Vogelkunde. Die gängigen Erklärungen zum Insekten- und Vogelster-ben greifen ihm zu kurz;
stattdessen bettet er sie ein in einen tiefgreifenden, sozioökonomisch bedingten Wandel unserer Natur- und Kulturlandschaft und
ihrer Nutzung in den letzten zwei Jahrhunderten.
Eintritt frei. Gäste herzlich willkommen.
Hier geht es zurück zur Archivübersicht